kommune.digital besichtigte die Stadt Ahaus im westlichen Münsterland (NRW) in der Nähe zur niederländischen Grenze. Wer intelligente Vernetzung in einer knapp 40.000 Einwohner fassenden deutschen Gemeinde erleben möchte, kommt um einen Besuch nicht herum.
Treiber der digitalen Vernetzung ist das Unternehmen Tobit Software AG, das seinen Stammsitz in Ahaus hat. Die Stadtverwaltung selbst begleitet die Entwicklung wohlwollend, das Stadtmarketing Ahaus beteiligt sich aktiv an der Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle für die Stadt selbst, für Gastronomie, Einzelhandel und Tourismus.
Die handelnden Personen im Unternehmen Tobit, ein vom Gründer geführtes mittelständisches IT-Unternehmen, bauen bei der Entwicklung der Anwendungsszenarien für die Smart City Ahaus auf ihren Erfahrungen aus der Entwicklung von Kommunikationssoftware, Kundenbindungsmaßnahmen mit großen Unternehmen und Sportvereinen sowie der Entwicklung der Smartphones und dazugehöriger Apps.
Eine seriöse Einschätzung, wie viel Zeit und Ressourcen in die Entwicklung der Software chayns, die zentrale Plattform für alle Aktivitäten rund um das digitale Universum, geflossen sind, konnte Dieter van Acken, Manager Marketing Communications bei Tobit, nicht geben. Sicher hingegen ist, dass eine derartige Vielzahl von Anwendungen für die vernetzte Stadt, die auf der gleichen Plattform stattfinden, zumindest in Deutschland eine Seltenheit ist.
Beispiel 1: Gastronomie
Gastronomen können ihren Kunden über die Plattform Tischreservierungen, Auswahl und Bestellung der Speisen sowie die Abrechnung ihrer Konsumation (über diverse Zahlungsanbieter) anbieten. Im Praxistest im Bamboo Restaurant funktionierte das reibungslos. Flexibilität legte die freundliche Bedienung an den Tag, als wir einen auf der Speisekarte nicht angebotenen doppelten statt eines einfachen Espressos bestellten: Die Extra-Portion Koffein ging aufs Haus.
Beispiel 2: Tourismus
20 Jahre lang gab es in Ahaus nicht mehr die Möglichkeit, Ruderboote am Burggraben des Ahauser Schlosses, Schlossgräfte genannt, auszuleihen. Für die Herausgabe und Abrechnung der Boote war ursprünglich der Betreiber einer benachbarten Minigolf-Anlage verantwortlich, dann aber seine Tätigkeit beendet. Der gesamte Mietvorgang passiert nun digital: Von der Buchung über die Bezahlung und Abrechnung bis zur Freischaltung der elektronischen Sicherung des Ruderboots. Dabei ist nicht nur die direkte Buchung möglich, sondern auch die feste Reservierung für die Nutzung zu einem späteren Zeitpunkt.
Beispiel 3: Hotellerie
Der Pächter eines Hotels in der Ahauser Innenstadt verlängerte seinen Vertrag nicht, der Eigentümer fand keine neuen Pächter mehr – geschweige denn geeignetes Fachpersonal. Dies war der Moment, in dem Tobit das Smartel entwickelte. Auch hier geschieht die Buchung eines Zimmers, das Öffnen der Hotel- als auch der Zimmertüren digital. Die Steuerung der Funktionalitäten im Zimmer selbst (Vorhang, TV etc.) als auch die Abrechnung der Minibar erfolgt über das Smartphone.
Natürlich kümmert sich noch Reinigungspersonal um die Sauberkeit. Eine Rezeption, den Concièrge oder einen Hoteldirektor finden die Besucher im Smartel jedoch nicht vor. Wer also die persönliche, freundliche Ansprache des Hotelpersonals benötigt, wird im Smartel nicht glücklich. Wer sich hingegen für das Erleben von neuen Technologien begeistert, findet im Smartel seine smarte Herberge. Der Ablauf des Kernprozesses „Übernachten in der Fremde“ funktioniert zumindest reibungslos.
Verpflegung erhalten die Gäste in Restaurant und Bar The Un-Brexit, das im gleichen Gebäude untergebracht ist.
Fazit
Es existieren eine Vielzahl von weiteren, bereits in der Praxis umgesetzten als auch theoretisch möglichen Szenarien. Die Erfahrung aus Ahaus zeigt einmal mehr: Man muss sie erlebt haben, um mitreden und mitdiskutieren zu können. Dies hilft auch, den laut den Verantwortlichen bei Tobit ersten kritischen Faktor für die Gestaltung von digitalen Lebenswelten zu überwinden: Die German Angst.
In der Tat dürfen wir in der Diskussion über die Digitalisierung unserer Arbeits- und Lebenswelten und der Einführung von neuen Technologien nicht sofort naive Hurra-Schreie ausstoßen. Die Einwände und Vorwände sind Legion.
Wer jedoch aus beruflichem oder privatem Interesse eine Vielzahl von durchdachten digitalen Anwendungen in einer deutschen Kommune live erleben möchte, sollte nach Ahaus fahren. Die Entscheidung, sich mit der Zukunft zu beschäftigen und selbst abzuwägen, welche Lösungen für uns sinnvoll und hilfreich sind, treffen dann wir als Menschen und Bürger.
Der Nutzen auf der Seite der Standortentwicklung und Wirtschaft liegen zumindest auf der Hand: Dem Arbeitskräftemangel und dadurch aussterbender Gastronomie und Hotellerie in ländlichen Regionen und damit ihrer Attraktivität als Tourismus- und Ausflugszielen begegnen kann man nur mit intelligenten, vernetzten, digitalen Plattformen, Prozessen und Angeboten. Hier liegt der wahre Mehrwert der Digitalisierung, zumindest schon einmal für Ahaus.
Autor: Martin Schmiedel